Romans Schicksalsbegegnung
Seit Romans Frau ausgerechnet am 23.12.2012 gestorben war, hatte er der Weihnachtszeit abgeschworen. Er konnte es nicht ertragen, wenn Menschen fröhlich waren, sich liebten, küssten und voller Vorfreude Geschenke für die Familie besorgten. Und so geschah es, dass er sich regelmäßig im Dezember in eine einsame Waldhütte im Schwarzwald verzog und sich von aller Welt abschottete. Auf die Versuche seiner Kinder, ihn wieder in die Familie zu integrieren, reagierte er schroff, ja beinahe herzlos und verletzte damit immer wieder die Menschen, die ihm tief im Herzen am allermeisten bedeuteten.
Auch in diesem Jahr war es wieder der erste Dezember, an dem Roman seine einsame Hütte bezog. Er hatte bereits eingekauft, mehr als Dosensuppen und haltbares Brot sollte es nicht geben. Ausgerüstet mit Feuerholz und einigen Büchern verschanzte sich der einsame, alte Mann in seinem Haus und ließ die Menschen, Menschen sein. Er bewegte sich für gewöhnlich nicht einmal hinaus, den gesamten Dezember verbrachte er in dem Haus und erst wenn das neue Jahr gekommen war, fuhr er zurück in seine Wohnung in der Stadt.
Es war der 18. Dezember, ein kalter, schneereicher Tag, an dem er sich entschloss, völlig entgegen seiner Gewohnheiten einen Spaziergang zu machen. Er stapfte durch den Schnee, die eisige Luft wehte ihm um die Nase und fast schon bereute er seinen Entschluss, als er ein herzzerreißendes Schluchzen vernahm. Er sah irritiert um sich, beschloss dann aber das Geräusch zu ignorieren. Er stapfte weiter und erneut durchdrang das Geräusch die Stille des Waldes. „Wer ist da“, brummte er zornig über die Störung in seinen Bart, doch es kam keine Antwort. Je weiter er seinen Weg entlang ging, umso lauter wurde das Geräusch. Er bog gerade um die letzte Ecke, die zurück zu seiner Hütte führte, als er eine ältere, gramgebeugte Frau auf einem schneebedeckten Stein sitzen sah.
„Was will die denn hier“, brummelte er für sich selbst, doch die Höflichkeit gebot es ihm, diese Worte nicht laut auszusprechen. Die schluchzende, schlanke Frau bemerkte Roman nicht, der sich zögerlich näherte. Erst als er direkt neben ihr stand, hob sie den Kopf und sah ihn aus tränenumschwirrten Augen an. „Entschuldigen Sie, brauchen Sie vielleicht Hilfe“? fragte Roman, der entgegen seiner Gewohnheiten so etwas wie Mitgefühl verspürte. Die großen, rehbraunen Augen der Frau wirkten so hilflos, dass er sich unwillkürlich an seine Frau erinnert fühlte. Renate, so hieß seine geliebte Frau, hatte ebenso dunkle, wie große Augen gehabt und ihr Blick hatte sein hartes Herz stets erwärmt.
„Ach danke der Herr, aber ich schätze mir kann niemand mehr helfen“, schluchzte die Frau gebrochen und ehe er darüber nachdenken konnte, hatte sich Roman neben sie gesetzt und sah sie hilflos von der Seite an. „Na na na, so schlimm wird es schon nicht sein“, brummelte er und streichelte unbeholfen über ihre Schulter. Diese leichte Berührung reichte aus und erneut begann die Frau zu weinen. Doch diesmal sprudelten neben den Schluchzern auch Worte aus ihrem Mund. „Ich hasse sie, die Weihnachtszeit. Wann immer die Menschen glückseelig werden, verspüre ich nur Schmerz. Musste ich doch mein geliebtes Kinde zu Grabe tragen und bin seither eine einsame, alte Frau“.
Roman zuckte erschrocken zusammen, als er verspürte, wie sehr das Schicksal auch hier zugeschlagen hatte. Noch nie hatte er einem Menschen von sich erzählt, doch diesmal brach er sein Gelübde und auch aus ihm sprudelten die Worte hervor. All seinen Kummer, all sein Leid klagte er der geduldigen Frau, die ihn aufmunternd ansah und der es sogar gelang, ihre eigenen Tränen zu trocknen. Bei Roman hingegen flossen sie reichlich, doch er störte sich nicht daran. Noch vier Stunden später saßen sie gemeinsam auf dem Stein und spürten nicht einmal, dass die Kälte um sie herum beinahe zu klirren fähig war.
Erst als das Zähneklappern Karins, so hieß Romans Schicksalsbegegnung, nicht mehr zu überhören war, wurden beide auf den Umstand aufmerksam und wie von selbst ergriff Roman ihre Hand und führte sie den Weg entlang, zu seiner gar nicht mehr so einsamen Berghütte. Erst als sie längst am warmen Ofen saßen fiel ihm siedend heiß ein, dass er dieser Frau nun gar kein Essen servieren konnte, schließlich gab es in der Hütte nichts. Als er sein Malheur gestand, lachte Karin zum ersten Mal seit er sie kannte und dieses Lachen war so herzerfüllend, dass selbst eine Mahlzeit aus Dosensuppe für Roman plötzlich wie ein Festmahl erschien.
Bis zum ersten Januar blieb sie bei ihm und die Dezembertage waren die schönsten, die er seit langem erlebt hatte. Karin ließ die Sonne endlich wieder in sein Herz und plötzlich erschien der grambeugte Mann gar nicht mehr so alt und gebrechlich. Täglich spazierten beide durch den schneebehangenen Schwarzwald, erzählten dies und das aus ihren Leben und gedachten den schmerzlichen Verlusten, die beide durchlitten hatten. Als sie am 24.12 gemeinsam auf der Bank saßen, auf der sie ihr erstes, langes Gespräch gehabt hatten, fiel eine Sternschnuppe vom Himmel. Ergriffen sahen Roman und Karin auf das Naturphänomen und als er ihre Hand ergriff, drückte sie sie kurz und beließ die ihre in seiner.
Beide hatten einen sehnlichsten Wunsch, den sie der Schnuppe zugeflüstert hatten. Beide wussten nicht, dass der Wunsch identisch war und doch sollten die kommenden Jahre zeigen, dass er sich erfüllt hatte. Noch heute fährt Roman jedes Jahr in die Schwarzwaldhütte, um die Weihnachtszeit dort zu verbringen. Doch längst ist der Gram nicht mehr im Gepäck, sondern Karin, die Frau die ihm das Lachen zurückgebracht hat. Auch wenn Karin niemals ihre kleine Tochter vergessen wird und Roman seine Renate für immer im Herzen trägt, war es den beiden Menschen dank einer weihnachtlichen Begegnung möglich, endlich wieder die Liebe fürs Leben zu entdecken.